Unterstützung statt Zwang und Ausgrenzung bei Essproblemen
Über die Zusammenhänge von „Essstörungen“, sexistischen Verhältnissen, Pathologisierung, Veganismus und die Möglichkeiten des Umgangs mit Betroffenen in und außerhalb der Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung
Von Maryam., 12.6.14
Essen ist wichtig für alle von uns. Besorgung, Auswahl, Zubereitung, Verzehren und Verdauung von Nahrungsmitteln sind ein Dauerthema in unserem Leben. Essen beschäftigt uns tagtäglich und lebenslang. Es ist nicht nur überlebenswichtig, sondern erfüllt verschiedenste Funktionen in unserem Alltag. Essen kann Sättigung und das Stillen von körperlichen und seelischen Bedürfnissen bedeuten. Es hat in allen Kulturen eine soziale Bedeutung und bietet vielfältigste Gelegenheiten für Zusammenkünfte. Es kann befriedigend, tröstend, erfüllend sein.
Essen kann aber auch Belastung, Stress, Angst, Ekel und Druck mit sich bringen und mit unersättlichem Hunger, nicht zu stillendem Verlangen oder zwanghafter Beschäftigung einhergehen.Es gibt unzählige Probleme im Bereich Essen und Ernährung. Politische, moralische und ökologische sowie gelegentlich gesundheitliche Fragestellungen dazu werden hin und wieder in der Tierrechts-, Tierbefreiungsbewegung thematisiert. Andere hingegen, wie schwierige Beziehungen zum Essen, bisher nicht.
Die Probleme und Schwierigkeiten in der Beziehung zum Essen und damit zusammenhängend zum Körper, die einigen Menschen gemacht werden, werden folgend als politisch thematisiert.
Die Position, aus der die Auseinandersetzung mit dem Thema erfolgt, geschieht aus einer feministischen, wissenschafts- und psychiatriekritischen Betroffenenperspektivei heraus. Die in der Literatur zum Thema übliche Expert*innenperspektive wird abgelehnt und spielt im Text nur eine Rolle, wenn damit einhergehende grundlegende Annahmen und Methoden kritisiert werden. Ausgangspunkt ist die Kritik an Pathologisierung und Psychiatrisierung von Menschen, deren Wahrnehmung und Verhaltensweisen, die auch sogenannte Essstörungen und psychiatrische Diagnosen generell einbezieht. Damit soll der bevormundende Blick auf und der Umgang mit Menschen, die besondere Körperbeziehungen und Beziehungen zum Essen bis hin zu großen Essproblemen haben, vermieden werden. Es soll eine Gegenposition zu den üblichen verbreiteten Ansichten und Abhandlungen über „Essstörungen“ entstehen, die betreffende Menschen als passive Leidende darstellen, die durch ihre „Krankheit“ nicht in der Lage seien, ihre Situation „richtig“ einzuschätzen und daher unfähig seien, selbst Ursachen und Auswege dafür zu finden. Im Mittelpunkt steht die Erfahrungswelt, die Lebensrealität und die Unterstützung Betroffener. Sie stellen hier die kompetenteste Instanz zu den Einordnungen und Bewertungen sowie der Konsequenzen ihres Zustandes, ihrer Wahrnehmung und Verhaltensweisen dar.
Gesellschaftliche Hintergründe und die theoretische Grundlage der Herangehensweise ans Thema werden zuerst erläutert. Anschließend wird dargestellt, weshalb die Thematisierung von Problemen mit Essen im Allgemeinen und mit Veganismus im Besonderen in der Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung wichtig ist, bevor radikale Konzepte des Umgangs mit Betroffenen thematisiert werden. Da die Länge des Textes begrenzt, das behandelte Thema jedoch hochkomplex ist, sind viele Aspekte nur angerissen und fallen entsprechend kurz aus. Einige Themen im Zusammenhang mit Essproblemen, wie Therapien und andere Möglichkeiten, mit den Essproblemen umgehen oder sie bewältigen zu können, sind nicht Bestandteil des Textes. Er ist an Freund*innen, Angehörige und Unterstützer*innen gerichtet und enthält keine Anleitungen oder Ratschläge zur Bewältigung der Essprobleme für Betroffene, sondern soll die Verschärfung der Probleme durch die Verhältnisse und Mitmenschen verhindern helfen. Literatur, die nützliche Hilfestellungen für einen erträglicheren Umgang mit Essen und sich selbst enthält, ist unten aufgeführt.
Körper, Essen und Geschlecht
„Essstörungen“ als Anpassungsversuche, Protestformen und Überlebens-strategien
In unserer industriellen westlichen und medial geprägten Gesellschaft spielen Aussehen und Körperformen eine große Rolle. Schlanke Körperbilder stehen einem Überangebot an Essen gegenüber. Essen gibt es immer und überall, das absichtlich im Überfluss produziert wird und unmöglich konsumiert werden kann und wovon ein Drittel bis zur Hälfte schließlich als „Müll“ endetii. Mit der Propagierung und Verfolgung eines körperlichen, überwiegend unerreichbaren Ideals, werden Menschen zudem an dem Punkt getroffen, den sie nicht ausblenden können, da Körper als materiell gewordene Realität immer mit den wahrnehmenden und handelndem Individuen verbunden sind. Die Zunahme der Angebote und Möglichkeiten zu essen (Supermärkte, Kaufhäuser, Lebensmittelläden, Imbisse, Kioske, Restaurants, unzählige Fressbuden auf Festen u.a. Veranstaltungen, Kochsendungen,ständig neue Ernährungstrends) scheint proportional zur Abnahme des weiblichen Idealgewichts zu verlaufen. Die permanente Konfrontation mit einem Nahrungsüberangebot und idealen Körperbildern fallen zusammen und bilden die Grundlage für den Psychoterror im Kampf um Sättigung, Akzeptanz und Ansehen. Der Körper wird zu einem Ort sozialer Kontrolle, dem Menschen ständig ausgesetzt sind und dem sie nie entkommen können. Menschen mit vom Ideal abweichenden Körperformen werden mit entsprechenden Bewertungen wie Disziplinlosigkeit, Faulheit, mangelnder Durchsetzungskraft, Maßlosigkeit, Kontrolllosigkeit oder Zügellosigkeit belegt. Wenn in der Folge Aussehen und Gewicht zu Dauerthemen geworden sind und wenn durch Kontrolle und Reduktion von Kalorien und Essensmengen Körperformen verändert und Gewicht beeinflusst wird, führt die Unzufriedenheit mit dem Körper unmittelbar zu einem komplizierteren bis schwierigen Verhältnis zum Essen. Das reicht von einer intensiven Beschäftigung damit, was und wie viel gegessen wird, bis hin zu sehr ausgeprägten Problemen, die den gesamten Alltag bestimmen.
Eine „Essstörung“ kann so als Versuch einer Lösung von Konflikten darstellen, die gesellschaftliche Bedingungen erzeugt haben. Das Gefühl keine Daseinsberechtigung zu haben bis hin zu regelrechtem Selbsthass können Folgen von Erfahrungen und Ereignissen einer komplexen Lebensgeschichte aber immer auch in Verbindung zur sozialen Umwelt und gesellschaftlichen Zuständen sein. Denn Verhalten und Wahrnehmung können nicht isoliert von diesen betrachtet und erklärt werden. Körper von Frauen* sind nicht nur ästhetisch in Werbung und Pornografie oder direkt physisch mittels Prostitution konsumierbar, sondern werden zur Ware gemacht, wenn ständig suggeriert wird, dass alle Teile davon verbesserungswürdig und -fähig sind. Fast alle Produkte für Frauen* haben mit Verbesserungen zu tun, die sie den einzelnen Körperteilen angedeihen lassen solleniii. Die Natur wird als unzulänglich erklärt. In der Folge dieses permanentem Schönheitsterrors sind sich fast alle Frauen* und Mädchen* ihres Körpers unsicher. Ihre Körper werden zu einem Kampfplatz gegen Mängel und für Verbesserungen, zur Voraussetzung für Zugänge in gesellschaftliche Bereiche. Frauen* wird der Zutritt zur Welt beschränkt, der vor allem von der Akzeptanz ihrer körperlichen Erscheinung abhängig ist und durch die Perfektionierung der Körper erreicht werden kanniv. Nahrungsverweigerung, Essanfälle und Gewichts-regulation durch Diäten, Erbrechen, Abführmittel oder Appetitzügler können als Versuch der Anpassung verstanden werden, in einer Kultur, in der vor allem Frauen* für ihr Äußeres geschätzt werden und in der ihr Aussehen mehr gilt als andere Merkmale ihrer Persönlichkeit.
„Essstörungen“ können also die logische Konsequenz sexistischer, fiktionaler und absurder Körperbilder sein und Hungern die konsequente Fortführung der Logiken einer Schönheitsdiktatur, in der vor allem Frauen* von der Mode-, Diätv -, Kosmetik-, Fitness-, Musik-, Medien-, und Pornoindustrie terrorisiert und dressiert werden und in der die meisten Menschen, vom Ideal abweichend, einer ständigen Bewertung und Kritik ausgesetzt sind und die die totale Selbstzerstörung billigend in Kauf nimmt. Nicht zufällig fallen die Errungenschaften der Frauenbewegung und die zunehmende Befreiung von Frauen* aus gesellschaftlich auferlegten Zwängen mit dem immer dünner und unrealistisch gewordenden Schönheitsideal (im Bereich des Untergewichts) zusammen. Damit sind schließlich neue Zwänge entstanden, die ideal geeignet sind, Frauen* von gesellschaftlicher Teilhabe und politischem Engagement abzuhalten.
Eine „Essstörung“ kann zunächst auch als Widerstand gegen Fremdbestimmung und auferlegte Zwänge und Erwartungen oder Hungern und Selbstkontrolle als „verzweifelter und psychologisch tödlicher Ersatz für die persönlichen und politischen Freiheiten“vi funktionieren.
Nach Susie Orbach kann systematische Nahrungsverweigerung als Hungerstreik verstanden werden. Sich trotz überall verfügbarer Nahrung diese vorzuenthalten, einem permanentem Hunger und den Qualen des Verhungerns auszusetzen sei keine „Krankheit“, sondern ein Hinweis auf die Intensität des Konfliktes, des Protestes, der Verzweiflung, die hinter der Nahrungsverweigerung steht. „Im Nein zum Essen existiert eine ungeheure Dringlichkeit und Stärke. Es handelt sich hier nicht um eine vorübergehende Laune, sondern um die Handlung eines Menschen, der entweder verzweifelt oder furchtlos oder beides ist.“vii. Hungerstreik sei das einzige Mittel, das der Betroffenen geblieben scheint. Es ist eine Protestform gegen die Lebensbedingungen und die Realität, die Frauen* Rollen aufzwingt, sie objektifiziert, sexualisiert und kontrolliert. Mit der Nahrungsverweigerung übernehmen Betroffene die Kontrolle über sich, ihren Körper und ihr Essverhalten und entziehen sich scheinbar der ständigen Verführung durch Essen, der Bewertung ihrer Körper und der Einflussnahme anderer auf ihr Essverhalten. Die erfolgreiche Unterdrückung der Bedürfnisse zeigt nach Orbach die Entschlossenheit und die Überzeugung von Frauen*, die der Intensität politischer Hungerstreikenden ähneln. „Ihre Selbstverleugnung ist letztlich ein Protest gegen die Gesetze, die das Leben einer Frau begrenzen. Eine Forderung nach dem uneingeschränkten Recht, zu leben.“viii Aber in einem Kampf, in dem der Körper zum Feind wird, wird zugleich das zementiert, gegen das eigentlich protestiert wird: Zwänge, Abhängigkeiten und die Verweigerung von Autonomie.
Wenn „Magersüchtige“ dann zum Essen gezwungen werden, wird dieser zugrundeliegende Protest ignoriert, was zur Verstärkung der Probleme und der Verlängerung des Konfliktes beitragen kann. (Folter)Methoden wie strenge Bettruhe, Zwangsernährung und Verhinderung von Bewegung, sind schon deshalb nicht hilfreich, weil der Erfolg dort nur an der Gewichtszunahme gemessen wird und nicht an einer Verbesserung der Beziehung Betroffener zu sich und ihrem Körper oder der Verringerung anderer damit zusammenhängender Konflikte ansetzen. Im Kampf gegen die Magersucht spiegeln solche Methoden eher die Stellung von Frauen* in der Gesellschaft wider. In dem Machtkampf um die Körper (magersüchtiger) Frauen*, der Parallelen in anderen Bereichen aufweist, zeigt sich die Einstellung gegenüber weiblichen Körpern und das Bestreben diese zu kontrollierenix
Zusätzlich tragen viele andere Ursachen zu „Essstörungen“ und belastenden Körperbeziehungen bei. Leistungsdruck, Erfolgsdenken, Lohnarbeitszwang, Bevormundung generell oder Essensregeln speziell können Essprobleme befördern. Ein funktionierendes Hunger- und Sättigungs-regulationssystem bei Kindern wird durch Einflussnahme mittels Regeln oder Druckausübung (auch mittels Lob) beispielsweise darauf, dass das Kind aufessen soll, manipuliert und gestört.
Sehr viele Betroffene haben sexuelle Übergriffe und damit die Verletzung ihrer körperlichen und seelischen Integrität erlebt. Grenzüberschreitungen, physische und psychische Gewalt, kann die Beziehung zu sich selbst und zum Körper und damit zur Ernährung langfristig (zer)stören. Eine Dimension von Essproblemen kann also eine Art Überlebensstrategie oder Schutzmechanismus als Reaktion auf (sexuelle) Übergriffe sein. Gegen den Körper anzuhungern oder anzufressen, können Versuche sein, wieder Macht und Kontrolle über die geschändete und entfremdete Seite der Persönlichkeit zu erlangen und gegen den durch sexuelle Gewalt erfahrenen Kontrollverlust anzukämpfenx. So kann die „Essstörung“ in Form von Nahrungsverweigerung, der Manipulation von Sättigungsgefühlen durch Essattacken und Erbrechen dabei helfen, Gefühle von Ohnmacht und Ausgeliefertsein zu ertragen. Diese Manipulation durch Verweigerung oder Überessen kann aber auch als Selbstbestrafung funktionieren, um Gefühle der Scham, des Selbsthasses, des Ekels oder der Schuld zu kompensieren.
Im Vergleich einiger Studien, die sich mit dem Zusammenhang von sexuellen Misshandlungenxi und „Essstörungen“ beschäftigten, kommen viele zu dem Ergebnis, dass der Anteil von Frauen*, die sexuelle Misshandlungen erlebt hatten, bei Frauen* mit „Essstörungen“ höher ist als bei Vergleichsgruppen, die angaben keinen sexuellen „Missbrauch“ in der Kindheit erlebt zu habenxii. Schmidt und Humfress fassen zusammen, dass bei 25 bis 30 Prozent der Frauen* mit „Bulimie“ und „Anorexie“ (die sich professionelle Hilfe in Anspruch genommen und an den Studien teilgenommen hatten) ein sexueller Missbrauch in der Kindheit vorliegt. Bei Frauen* mit „Bulimie“ ist der Anteil derer, die sexuelle Misshandlungen sowie physische Gewalt erfahren hatten, dabei teilweise wesentlich höher als bei denen mit „Magersucht“xiii.
Nach Übergriffen auf die seelische und körperliche Unversehrtheit ist eine „Essstörung“ insofern erklärbar, dass sie als Angriffe auf den Körper und die Geschlechtlichkeit (fast ausnahmslos Weiblichkeit) und damit auch die Sexualität nicht nur soziokulturell und politisch gelesen als Ausdruck von und Angriff gegen patriarchale Verhältnisse und deren unterdrückende, gewaltförmige Sexualität sein können, sondern auch ein (wenn auch selbstzerstörerischer) Umgang mit den Erfahrungen und der Folgen daraus. Dieser Umgang offenbart die Verzweiflung und die von außen verursachte Ohnmacht, die nur noch den Zugriff auf den eigenen Körper und den Betroffenen diesen als Schlachtfeld im Krieg gegen sich selbst übriggelassen hat, weil alle anderen Möglichkeiten ihrer Kontrolle entzogen wurden.
Der Großteil der sowohl von Essproblemen als auch von Erfahrungen mit Übergriffen und sexuellen Misshandlungen betroffenen Menschen sind weiblich sozialisierte Personen. Da diese Probleme, auch in der Tierrechtsbewegung, jedoch weitgehend tabuisiert geblieben sind, kann die Nichtthematisierung an sich ein Ausdruck struktureller sexistischer Verhältnisse sein, in denen die Themen von Frauen* ignoriert und marginalisiert werden. Gerade in sich als feministisch und emanzipatorisch verstehenden Zusammenhängen sollten diese aber zum Thema gemacht werden, um die gesellschaftlichen Verhältnisse, die weibliche Themen und Probleme ausblendet, nicht zu reproduzieren.
Essprobleme sind keine Störungen
Essverhalten, das bestimmte Kriterien erfüllt, kann aus institutionalisierter wissenschaftlicher Betrachtung als „Magersucht“, „Bulimie“ oder „Binge Eating-Störung“ bezeichnet, zu Krankheiten erklärt und mittels ICD10xiv oder DSM Vxv als solche klassifiziert werden.
Die Situation für Menschen, die eine „Essstörung“ diagnostiziert bekommen oder bekämen, würden sie sich einer ärztlichen Untersuchung ausliefern, wird von diesen oft als sehr belastend erlebt. „Magersucht“ gilt als die tödlichste unter den sogenannten psychischen Erkrankungenxvi. Aber auch andere „Essstörungen“, wie zum Beispiel „Bulimie“ haben aus medizinischer Sicht gravierende Auswirkungen auf den Körperxvii. Daher sollen diese als Störungen eingestuften Probleme und Verhaltensweisen hier nicht relativiert oder verharmlost werden, sondern vielmehr die Fremddefinition und -bestimmung über Menschen kritisiert werden. Das Problem am Wort „Störung“ in ist die sprachliche Vermittlung davon, dass jemand gestört und psychisch unnormal sei. Denn nicht auf alle, die Essen als problematisch empfinden, treffen die diesen „Störungen“ zugeordnete Symptome und Verhaltensweisen zu. Das komplexe Empfinden, Erleben und Verhalten von Menschen kann weder mittels eines stichpunktartigen Kriterienkatalogs eingeordnet und darauf reduziert werden, um einen „Krankheitswert“ festzustellen, noch sollte es einer Gruppe von Außenstehenden und sogenannten Expert*innen überlassen werden, über die Probleme anderer Personen zu urteilen und sie anhand von Diagnosen zu pathologisieren. Zwar kann ein Umgang mit essen oder nicht essen für den Körper sehr ungesund sein und sogar lebensgefährlich werden, was Mediziner*innen kompetenter als Andere einschätzen können. Jedoch sollten sie nicht über die psychische Verfassung urteilen, da es dafür keine objektiven Kriterien gibt. Bis heute gibt es keine messbaren oder wissenschaftlich nachweisbaren biologischen Merkmale und Ursachen für „psychische Krankheiten“. Diese Merkmale und die daraus abgeleiteten Krankheiten beruhen auf der Konstruktion theoretischer Modelle, die lediglich Annahmen, aber keine Tatsachen sindxviii. Die Kritik an Psychiatrie und wissenschaftlicher Psychologie ist also notwendig, da ihre Einteilung in „gesund“ und „krank“ von politischen, sozialen, kulturellen und gesellschaftlichen Normenxix abhängig ist und psychiatrische Gesundheits- und Krankheitsdefinitionen immer machtvoll hergestellt werden. Als soziale Institutionen und wissenschaftliche Disziplinen sind sie Instrumente gesellschaftlicher Normierung und konstruieren im Rahmen moderner Macht- und Herrschaftsstrukturen, was krank und wer „irre“ ist und wirken dadurch sozial stigmatisierendxx. Die Betitelung dieser Probleme und Zwänge mit „Krankheit“ oder „Störung“ betrachtet Verhalten innerhalb eines komplexen Zusammenhanges nicht nur individualisiert und isoliert und negiert damit die gesell-schaftlichen Zusammenhänge und Ursachen. Pathologisierung von erklärbaren Verhalten und Gefühlen (wenn genügend Interesse an den Entstehungszusammenhängen besteht) verharmlost zudem auch die Stärke, Energie, Kraft und Entschlossenheit der Betroffenen, die notwendig sind, um dauerhaft gegen die eigenen Bedürfnisse zu kämpfen und sich den Qualen von Verzicht, Hungern, Kotzen, Überessen und den Schmerzen auszusetzen.
Sogenannte Störungen oder Verhaltensweisen, die als ausgeprägte Essstörung gelten, können Probleme sein, die schlimmer als andere sind. Sie können aber auch für die betreffenden Menschen kein Problem darstellen und nur deshalb zu einem werden, weil das Umfeld das Verhalten nicht akzeptiert oder sogenannte Expert*innen es als gestört einstufen. Weiterhin von „Störungen“ und „Krankheiten“ zu sprechen, entspreche sowohl epistemischer als auch struktureller Gewalt, die im Zusammenhang mit Herrschaft und Gewalt in Mensch-Tier-Verhältnissen auch in der Tierrechts-/Tierbefreiungsbewegung thematisiert wirdxxi. Menschen die sehr viel, sehr wenig oder anders „ungewöhnlich“ essen, hätten womöglich oft weniger Probleme, wenn ihr Verhalten akzeptiert und sie unterstützt würden.
Das Ausmaß der Einschränkung, der Belastung oder der Intensität von Leiden können nur die Betroffenen selbst beurteilen. Ebenso wie damit umgegangen werden soll. Denn Hungern oder Essanfälle werden nicht weniger, wenn das Verhalten zur Krankheit erklärt wird und den Menschen damit die Fähigkeit abgesprochen wird, über sich selbst entscheiden zu können. Die Konzepte von „Krankheit“, „Gesundheit“, „Normalität“ und „Heilung“ (als Zurechtkommen in aktuellen gesellschaftlichen Umständen) werden hier abgelehnt, ohne dabei individuelles Leiden und Hilfebedürfnisse und die Erweiterung der Perspektive auf die gesellschaftlichen Umstände als mögliche Ursache des individuellen Leidens auszublendenxxii.
Zusammenhänge von Essproblemen und Tierbefreiungsbewegung
Warum ist das Thema Essprobleme oder „Essstörungen“ in Zusammenhängen, in denenErnährung eine nicht unwesentliche Rollespielt und in denen Zutaten(listen) und Zubereitung von Mahlzeiten einen wichtigen Stellenwert einnehmen, noch weitestgehend tabuisiert? Wieso werden subjektiv empfundene Schwierigkeiten im Umgang mit Essen oder Probleme mit veganer Ernährung und Ernährungsumstellungen so wenig thematisiert? Und wieso ist das Thema so wichtig, um über diesen Text hinaus eine intensive Auseinandersetzung zu erfahren?
Weil auch in der Tierrechts-, Tierbefreiungsbewegung Menschen zu finden sind, für die es nicht einfach und selbstverständlich ist, vegan oder überhaupt zu essen. Weil sehr viele weitere Menschen Betroffene kennen, für die Essen keine Selbstverständlichkeit ist. Weil es eine Kunst ist, in dieser Gesellschaft vor allem als Frau* keine Essprobleme gemacht zu bekommenxxiii.
Entsprechend viele Menschen mit Essschwierigkeiten gibt es. Zur tatsächlichen Verbreitung gibt es unterschiedliche Schätzungen. Für das Kinder- und Jugendalter kursieren oft Zahlen von 20 Prozent des Anteils der Jugendlichen, die von „gestörtem“ Essverhalten betroffen sein sollenxxiv. Nach der Zusammenfassung der Prozentsätze unterschiedlicher Arten von Essverhalten, die als Essstörungen eingestuft werden (Anorexia nervosa, Bulimia nervosa, Binge-Eating-Störung) kommen die am häufigsten zitierten Zahlen deutschsprachiger Institutionen auf einen Wert von etwa fünf Prozent für den Anteil an der Gesamtbevölkerungxxv. Unabhängig davon wie stark die befragten Menschen tatsächlich von einem derart belastenden Umgang mit Essen betroffen sind, dass sie diesen selbst als störend bezeichnen würden, kann festgestellt werden, dass viele Menschen betroffen sind, besonders häufig Frauen* und Mädchen*. Und nicht wenige, die sich für Tierrechte und Tierbefreiung engagieren. Sicher ist, dass jede*r betroffene Menschen kennt, ob bewusst oder nicht.
Eine Thematisierung ist notwendig, um die Lebensrealität von Menschen mit Essproblemen sichtbar zu machen und ihrer Ausgrenzung und Stigmatisierung entgegenzuwirken.Einerseits damit auf Betroffene Rücksicht genommen werden kann und ihnen das Leben und den Umgang mit Essen nicht noch (mehr) zu erschweren und andererseits um sie direkt zu unterstützen und so praktisches solidarisches Handeln entstehen zu lassen.
Wie es schon Katharina Röggla in dem Text „Mein Körper – mein veganer Tempel“xxvi formulierte, soll ein „Nachdenken darüber ermöglicht werden, wie ein problematischer Umgang mit Essen aus privater Verschwiegenheit herausgeholt und in politische Diskurse integriert werden kann. Was sind die Risiken und Nebenwirkungen einer politischen Praxis für Frauen*, die so wesentlich über die Reglementierung von Nahrung funktioniert?„
Veganismus als Versprechen und Identitätskonstruktion
Die vegane Ernährung erfreut sich zunehmender Beliebtheit. Dabei werden oft auch die positiven Auswirkungen auf Gesundheit, Fitness, Körpermaße und Gewicht thematisiert. In einer Welt, in der Schlankheit als Selbstverständlichkeit und Ziel propagiert wird und in der vor allem Frauen* einem stärkeren Druck als andere Geschlechter unterworfen sind, attraktiv zu sein und ihre Bedürfnisse und ihr Verlangen unter Kontrolle zu halten, gewinnt Veganismus als Wundermittel auf dem Weg zur Traumfigur und körperlichen Fitness immer mehr an Bedeutung.
Aus dieser Motivation heraus vegan zu leben, kann nicht das Ziel sein. Denn hierbei werden weder die Gewalt hinter der Nahrungsmittelerzeugung, noch gängige Rollen- und Körperbilder sowie andere gesellschaftliche Normen hinterfragt. Ein Veganismus, der mit den gleichen Argumenten und Motiven arbeitet, wie die oben genannten nur an Profit interessierten Industrien, wird selbst zum Problem. Eine solche Begründung für Veganismus kann daher einerseits selbst zur Ursache und zum Auslöser gesellschaftlicher Missstände werden.
Andererseits fördert der Konsum nichtveganer Produkte die Degradierung tierlicher Lebewesen und Körper zu Lebensmitteln. Der Kauf solcher Produkte unterstützt die Ausbeutung durch finanzielle Förderung und direkte marktrelevante Nachfrage. Dass Produkte mit tierlichen Inhaltsstoffen nicht vegan sind, ist soweit Konsens in der Tierrechtsbewegung. Ebenso dass diese kritisch zu sehen sind und daher Kauf und Konsum abgelehnt werden. Das gehört aber längst nicht mehr nur zur politischen Strategie und zur praktischen Konsequenz von Verhältnissen, in der Tiere als Wirtschaftsfaktoren funktionieren, sondern auch zum Selbstverständnis und zur Beschreibung der eigenen Identität.
Inzwischen ist die Verortung als Veganer*in, auch außerhalb der Tierrechtsbewegung als eine der ersten Informationen bei Selbstvorstellungen zu vernehmen. Vegan ist Prämisse. Oft werden Menschen, die zugeben, nicht vegan zu leben, schnell eingeordnet und abgeurteilt. Verbreitet scheint eine beinah nicht hinterfragbare Definition von Veganismus, die oft sowohl unvollständige Zutatenlisten als auch bestehende Marktmechanismen ausblendet und zu gegenteiligen Auswirkungen der beabsichtigten oder vorgegebenen Ziele führen kann.
Die Tierrechtsbewegung erzeugt die stärkste aller veganen Identitätspolitiken- und konstruktionen dadurch, dass ein ausnahmslos veganer Konsum oft als Bestandteil und Grundlage von Tierrechtspositionen begriffen, meist aber nur theoretisch-moralisch begründet wird und andere Wirkungszusammenhänge und Aktionsformen von Tierbefreiung ausgeblendet werden. Eine Tierbefreiungsposition, die die Leidvermeidung zu einem der wichtigsten Ziele erklärt, müsste praktisch sogenannten Abfall jeglichen finanziell nachgefragtem Konsum vorziehen und auch „unveganen Abfall“ (als Alternative zum Kaufkonsum) zumindest akzeptieren, wenn davon auszugehen ist, dass Kaufkonsum als finanziell getätigte Nachfrage sich in entsprechend gesteigerter Produktion von Gütern äußert, die auch bei veganen Produkten mit dem Töten von Tieren einhergehtxxvii. Da es vor allem für Großstädter*innen keinen Veganismus gibt, für den keine Tiere ermordet wurden, bedeuten Vegandefinitionen und damit zusammenhängende Konstruktionen von Wahrheiten auch Machtausübung innerhalb von Zusammenhängen, die Ausgrenzungen und diskriminierende Verhältnisse begünstigen, und das erlauben und produzieren, gegen das offiziell gekämpft wirdxxviii.
Menschen, die offen nicht vegan leben (sei es, weil sie nichtvegane containierte oder gekaufte Lebensmittel essen) und ihr Verhalten, werden oft als Widerspruch zur Tierrechts-, Tierbefreiungsposition wahrgenommen. Neben der Nachsicht, dass sie es möglicherweise (noch) nicht geschafft haben, auf vegane Ernährung umzusteigen, wird ein eingegrenzter Bereich von Gründen an einer nicht rein veganen Ernährung angenommen. Es wird unterstellt, Veganismus würde nicht wichtig genug genommen, um gänzlich auf unvegane Produkte zu verzichten. Entweder weil sich nicht ausreichend informiert oder bemüht würde, Alternativen zu suchen und zu probieren und das gewohnte Konsumverhalten zu verändern. Die Gründe werden also oft in Bequemlichkeit, Faulheit oder der mangelnden Überzeugung gesehen, die die betreffenden Menschen als „wahre“ Tierrechtler*innen oder Tierbefreier*innen disqualifizierenxxix. In der Folge können sie weder ernst genommen werden noch sich gleichberechtigt einbringen.
Auch das sogenannte Fat-Shamingxxx von als dick_fett gelesenen Menschen, die wegen ihrer ungesunden nicht veganen Ernährung selbst schuld an ihrem Gewicht seien, ist hin und wieder zu beobachten. All diese Muster als Abwertungsmechanismen von Menschen, die sich vermeintlich anders verhalten, sind ein bislang wenig thematisiertes und wahrgenommenes Problem in der Bewegung. Die Konsequenz der Identitäts-konstruktionen – die immer auch Ausschlüsse und Hierarchisierungen hervorbringen, da das Eigene von einem Anderen, das nicht zur eigenen Identität gehört, abgegrenzt, selbst konstruiert und gegenüber dem Eigenen hierarchisch angeordnet wird – können also Subjektdekonstruktionen sein, die sowohl das Entstehen einzelner als auch von Gruppenidentitäten hinterfragen, analysieren und bekämpfen.
Vegan geht nicht für alle – „Unvegane“ Tierbefreiungsaktivist*innen
Essprobleme können besonders dort noch belastender werden, wo strikter Veganismus unreflektiert propagiert, als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt wird und nicht zur Diskussion steht. So wie Vergewaltigungsvergleiche und die Ächtung abweichender Meinungen ein großes Problem für Überlebende sexualisierter Gewalt sein können (siehe TIERBEFREIUNG 81 und hier), so dass sie sich aus der Tierrechtsbewegung ausgeschlossen fühlen, so kann die nicht hinterfragbare Vorgabe der veganen Ernährung und die Abweichung davon – ob als Meinung oder Handlung – für Menschen mit Essschwierigkeiten zu einer unüberwindbaren Hürde werden und zu einer unerträglichen Atmosphäre führen, die ausgrenzende Wirkung hat. Beziehungen zu Lebensmitteln, Nahrungsaufnahme und Ernährung können in vielerlei Hinsicht schwierig sein. Deshalb sollen an dieser Stelle nur einige, persönlich bekannte Beispiele genannt werden. Einer mir bekannten Person, die vergleichsweise wenig isst, fällt es schwer, auf bestimmte Käsesorten zu verzichten. Sie traut sich deshalb nicht, zu Treffen der lokalen tierbefreier Gruppe zu gehen. Einer anderen fällt es schwer, größere Mengen an Essen zuzubereiten, zu verteilen oder zugänglich zu haben. Sie kann nicht an Küfas/Voküs/EfAs/MiMaKüs, Brunchs, Ausflügen in Restaurants, überhaupt an Veranstaltungen und Treffen, bei denen gegessen wird, teilnehmen. Eine Person benötigt bestimmte Lebensmittel, die sie lange kennt und die nicht immer vegan sind (bestimmte Jogurt- oder Käsesorten, Tiefkühlgerichte), damit sie etwas essen kann. Sie traut sie sich nicht in Gegenwart anderer sich als Tierrechtler*innen verstehender Menschen zu sich zu nehmen und muss daher oft allein essen.
Durch die Neigung zum Perfektionismus, die einige Menschen mit Essproblemen haben, kann das Ziel zu 100 Prozent vegan zu leben, zusätzlich enormen Druck bedeuten. Manche Personen haben Phasen, in denen sie das Bedürfnis haben, sehr viel in kurzer Zeit zu essen. In solchen Fällen ist es aus zeitlichen und finanziellen Gründen unmöglich, die Lebensmittel und Gerichte vegan zu halten, weil beispielsweise die Zubereitung Stunden dauern würde oder genügend Convenience Food beim Schnellimbiss oder aus dem Bio- oder Vegan-Supermarkt nicht bezahlbar ist. Menschen mit sogenannter Bulimie oder Binge-Eating-Störung, die keine Vorräte zu Hause haben, um Essanfälle zu vermeiden, sind in einer Situation, in der sie einen Anfall nicht vermeiden können, auf den nächstgelegenen Laden angewiesen, in denen das vegane Angebot nicht ausreichend ist und daher auf unvegane Produkte zurückgegriffen werden muss. Einige Personen benötigen eine sehr klare Struktur und einen strikten Zeitplan für ihre Mahlzeiten. Für sie fallen nicht nur Voküs, Brunchs und Tagesausflüge weg, sondern auch die meisten Demos und Aktionen (deren Zeitspanne nicht genau geplant werden kann) und viele andere Veranstaltungen. Zudem es oft zweifelhaft erscheint, welche politischen Inhalte mit den immer noch verbreiteten Essveranstaltungen von Tierrechtsinitiativen transportiert werden sollen und es wünschenswert wäre, wenn Ziele, Zweck und Wirkung öfter hinterfragt und kritisiert würden.
Es kann also als sehr schwierig empfunden werden, auf bestimmte Lebensmittel zu verzichten und den Umgang mit Essen erschweren. Die Beschäftigung mit Essen, Ernährung, Kochen kann sehr intensiv sein, auch wenn die betreffenden Menschen kaum oder nichts essen. Das Thema Essen kann so dominant sein, dass es ihr Leben vollkommen bestimmt und sie dennoch verhungernxxxi.
Für einige Menschen ist die Beschäftigung mit Essen so belastend, dass sie nicht in der Lage sind genug vegane Lebensmittel vorrätig zu haben, Inhaltsangaben zu studieren, in Mensen und Restaurants jedes Mal genau nachzufragen oder immer für Alternativen zu sorgen, wenn sie unterwegs sind und außerhalb ihres Wohnumfeldes essen.
Wenn sich Menschen also nicht am gemeinsamen Kochen/Essen beteiligen oder nicht komplett vegane Gerichte essen, kann das viele Gründe haben. Essen kann so schwierig sein, dass nur ganz bestimmte Lebensmittel in Frage kommen, die jahrelang bekannt sind und bei denen Geschmack, Aussehen, inhaltliche Zusammensetzung das Essen erträglicher machen und den wenigsten Ekel auslösen. Und dazu können Produkte gehören, die nicht vegan sind.
Und diese Personen outen sich nicht als nicht-vegan. Einerseits weil vegan-“sein“ oft vorausgesetzt und angenommen wird, dass es ohne Probleme und für jede*n machbar sei. Andererseits weil für diese Menschen Essen nicht nur zu einer politischen, sondern auch zu einer sehr persönlichen und intimen Angelegenheit (gemacht) wird, indem über diese Bedürfnisse und Probleme nicht ohne weiteres gesprochen werden kann. Konsequenzen daraus können aber nicht nur die verstärkte Thematisierung dieser Lebensrealitäten unddie Kritik an Identitätspolitiken generell, sondern auch die Anerkennung nichtveganer Ernährungsformen sein. Deren Einbeziehung in Tierrechts- und Tierbfreiungspositionen in das Selbstverständnis ist notwendig, um Menschen, die für Tierbefreiung eintreten, aber aus den genannten Problemen heraus nicht vegan leben können, mitzudenken. Es ist wichtig, um ihre Lebensrealität und ihr Verhalten anzuerkennen, ohne dieses ausschließlich mit ihren Problemen zu begründen. Denn eine erwartete Rechtfertigung kann Druck erhöhen und Essen weiter verkomplizieren. Die wenigsten Betroffenen werden ihr unveganes Essen und Verhalten ankündigen oder kommentieren wollen, da es entwürdigend sein kann, sich zu individuellen Essproblemen bekennen zu müssen, damit ein Essverhalten geduldet oder nicht kritisiert wird. Zudem kann die Inklusion von Verhaltensweisen in das eigene Bewegungsverständnis, die diesem Selbstverständnis scheinbar widersprochen haben, auch die Kritik an anderen Bewegungsnormen und solchen selektiven Kriterien erleichtern, die bestimmen, wer dazu gehört und wer nicht, und die Menschen mit bisher nicht thematisierten Lebensrealitäten ausblenden.
Veganismus als Hilfestellung
Für viele, die Probleme mit Essen haben, kann Veganismus aber auch ein Weg sein, besser mit der Auswahl von Lebensmitteln zurechtzukommen. Besser im Sinne von weniger Zeit und Energie, die aufgewendet werden müssen, um einzuschätzen, was kalorienarm und gesund ist. Diese Auswahl kann auch dazu führen, die Kontrolle über Kalorien und möglichst wenig Nahrungsaufnahme zu erleichtern. Viele „Magersüchtige“ können sich mit der Entscheidung für eine vegane Lebensweise im Überfluss des Nahrungsangebotes leichter orientieren, ihr Essen einfacher planen und Veganismus nutzen, um viele kalorienreiche Lebensmittel von vornherein auszuschließen. Aber auch das Denken und Sehen über den Kreis der eigenen Probleme hinaus und wie dieser mit anderen Vorgängen verbunden ist (Gewalt hinter der Lebensmittelproduktion), kann Entscheidungs-prozesse erleichtern und dabei helfen, trotz der Probleme, die Verantwortung und die Auswirkungen des eigenen Handelns und damit auch politische und ethische Aspekte als Entscheidungskriterien einzubeziehen. Diese müssen dann nicht verdrängt und zu einem späteren Zeitpunkt erarbeitet oder als unwichtiger als medizinische Aspekte und der eigene körperliche Zustand bewertet werden. Das heißt, Veganismus kann nicht nur zu einer unüberwindbar gemachten Hürde für Betroffene werden, sondern auch hilfreich sein.
Dies wird aber von der Literatur für Betroffene, vielen Expert*innen sowie in Therapiekonzepten, aber oft nicht nur ausgeblendet, sondern teilweise auch als hinderlich auf einem Weg zur „Genesung“ oder „Heilung“ angesehen. Für Menschen, die aus moralischen Gründen vegan leben und Essprobleme haben und deren Angehörige und Freund*innen kann es zusätzlich belastend sein, dass in Informationsmaterialien zum Thema „Essstörungen“ eine fleischlose/vegetarische und vegane Ernährung als Einschränkung und Hinweis auf problematisches Essverhaltenxxxii gewertet wird.
In Kreisen von Ernährungsberater*innen ist immer noch die Annahme verbreitet, zu einer ausgewogenen Ernährung gehören Lebensmittel tierlicher Herkunft, obwohl alle neueren Erkenntnisse dagegen sprechen. Leider scheinen sich diese auf dem Gebiet der „Essstörungen“ weitgehend noch nicht durchgesetzt zu haben. Deutlich wird das bei den stationären Therapieangeboten, bei denen eine vollwertige vegane Verpflegung fast überall ausgeschlossen ist.
Die radikale Unterstützung – Selbstbestimmung als Priorität
Es gibt also Menschen die tierrechtskativ sind und sich als Tierrechtler*innen/Tierbefreier*innen verstehen und nicht vegan leben, nicht deshalb, weil sie nicht wollen, sondern weil sie nicht können. Und genau dort ist Solidarität und Unterstützung gefragt, nicht Abwertung und Ausgrenzung. Damit der Diskriminierung und der menschenverachtenden Verhältnisse entgegengewirkt werden kann und nicht das reproduziert wird, was eine sich als emanzipatorisch verstehende Strömung sonst kritisiert, wenn es um Tiere geht.
Um die Selbstbestimmung von Menschen anerkennen zu können, ist Sensibilität gegenüber den Ursachen von Beziehungen zu Nahrung und Essverhalten und die Achtung vor der Wahrnehmung und Lebensrealität anderer Menschen wichtig. Selbst wenn das nicht vegane Essverhalten thematisiert wird und es nicht aus einer schwierigen Beziehung zum Essen heraus zu erklären ist, helfen fremdbestimmte Interpretationen und übergriffige Kommentare wenig. Die Ursachenanalyse für Verhalten sollte von den Betroffenen selbst erfolgen.
Es sollte anerkannt werden, dass jede Person selbst darüber bestimmt, wie ihr Verhalten ist: Ob es problematisch für sie ist oder nicht, ob sie darunter leidet oder nicht, wieviel sie isst und was sie ist und ob das bewertet wird oder nicht. Nicht jede (sehr) dünne Person muss ein Problem mit Essen haben, ebenso wenig Menschen, die als dick_fettxxxiii gelesen werden. Einem Großteil der Personen mit Essproblemen sind diese nicht anzusehen, einerseits weil viele „normalgewichtig“ sind und andererseits weil viele Betroffene gelernt haben ihre Probleme, Absichten und Gefühle zu verstecken.
Damit ist nicht gemeint, dass keine Hilfe angeboten werden soll. Über die körperliche Verfassung und drohende Folgen (einschließlich Sterbeprozesse) sollten Betroffene ausführlich (!) informiert werden. Die Thematisierung der Konsequenzen für sie selbst und das Umfeld (das unter der Verfassung ebenfalls sehr leiden kann) ist wichtig. Sämtliche in Frage kommende Maßnahmen, die Betroffenen helfen könnten, sollten vorgeschlagen und besprochen werden. Über den Willen der Betroffenen sollte sich dennoch nicht hinweggesetzt werden. Das schließt auch lebensbedrohliche Zustände mit ein. Laut Gesetz (also nur theoretisch) ist es zwar nicht erlaubt, medizinische Behandlungen gegen den Willen von Personen vorzunehmen. Da aber Ärzt*innen zur Lebenserhaltung gezwungen sind und Suizid verboten ist, sind Zwangsmaßnahmen und Folterungen (künstliche Zwangsernährung, Fixierung während und nach Mahlzeiten, Zwangsmedikamentierung) von „magersüchtigen“ Patient*innen üblich, wenn deren Gesundheits-zustand als bedrohlich eingeschätzt wird.
Selbstbestimmung und der Wille der Betroffenen hat oberste Priorität. Das ist wichtig um die Funktionen und Ursachen der Probleme zu erkennen und ihnen die Grundlage zu entziehen. Die Betroffenen müssen die Kontrolle über ihr Essverhalten haben.
Die Forderung nach praktischer und theoretischer, mündlicher und schriftlicher Inklusion unveganer Tierrechtler*innen und Tierbefreier*innen in die Bewegung meint auch keine Entpolitisierung von Essverhalten und Nahrungsmittelproduktion, sondern eine nach der Berücksichtigung besonderer (einschließlich schwieriger) Beziehungen zu Essen und Ernährung. Ein solidarischer Umgang miteinander ist wichtig. Gerade deshalb, weil es für einige Menschen schwieriger ist, vegan zu leben und sie daher vielleicht ohnehin im Konflikt mit sich stehen und mit diesen Widersprüchen leben müssen.
Indirekte Unterstützung – Vermeidung von ausgrenzendem Verhalten
Eine gemeinsame Planung (von Zubereitung oder Zeitpunkt) und Durchführung von Mahlzeiten für alle daran potentiell beteiligten Personen ist unter Berücksichtigung finanzieller und zeitlicher Kapazitäten, aber auch aufgrund der sozialen Funktion des gemeinsamen Essens, sinnvoll.
Dennoch sollte es immer die Möglichkeit geben, individuell über Art, Menge, Zeitpunkt und Ort zu bestimmen, da dies das Essen erleichtern kann. Gegen be- oder abwertende Kommentare über Aussehen, Auswahl, Menge von Essen oder das Essverhalten von Menschen, kann immer interveniert und darauf aufmerksam gemacht werden, dass das unangebracht ist.
Neben dem Aspekt, dass bei geäußerten Urteilen zum Essverhalten anderer, immer auch Aussagen über Person und Charakter mitschwingen, können Kommentare zum Essen und Essverhalten, den Appetit, Umgang und das Empfinden im Zusammenhang mit der Mahlzeit beeinträchtigen. Beispiele sind: „Du isst aber jede Menge heute“, „Schon wieder Hunger?“, „Länger nichts gegessen wie?“, „Findest du das nicht ein bißchen viel?“, „Das sieht aber nicht gerade appetitlich aus“, „Ich könnte das nicht essen“ bis hin zu „ihhh!, das sieht ja eklig aus.“, Weitere Beispiele sind Anekdoten von Tierfarmen oder Verdauungsvorgängen, negative Erfahrungen mit bestimmtem Essen und anderen unappetitlichen Begebenheiten.
Auch Nachfragen und Aufforderungen mehr zu essen, können als belastend empfunden werden. Das kann dazu führen, dass die betreffenden Personen es künftig meiden, mit anderen zusammen zu essen, was zu Ausgrenzung führt. Es bringt gar nichts, zu versuchen, andere zum Essen zu bewegen oder davon abzuhalten. Das kann Menschen dazu drängen, anschließend zu erbrechen, weil sie mehr gegessen haben, als sie wollten, oder dazu, anschließend heimlich noch viel mehr zu essen, weil sie ihr Verlangen unterdrückt haben, das sich dadurch noch verstärkt hat. Fast jede Form der Einmischung verschlechtert die Situation der Betroffenen. Auch Vorschläge und nicht erbetene Ratschläge können als bevormundend empfunden werden und den Druck erhöhen, den Bedürfnissen heimlich nachzugehen oder den Fressdruck oder Bewegungszwang steigern.
Ein erträgliches Umfeld schaffen
Umfeld meint Orte und Räume sowie das Klima von Treffen, Zusammenkünften, Begegnungen, Camps, Kongressen, Seminaren und anderen Gelegenheiten, bei denen es auch ums Essen geht. Die Atmosphäre kann Einfluss auf wesentliche Aspekte des Essens, wie Appetit, Geschmack, Verträglichkeit, Sättigung und Verdauung, haben. Dabei ist es wichtig, während des Essens keine Spannungen zu provozieren, Konfliktthemen anzusprechen oder Streitereien auszutragen.
Für einige Menschen kann es schwierig sein, wenn sie größeren Mengen an Lebensmitteln ausgesetzt sind. Bei gemeinsamen Mahlzeiten kann es leichter sein, wenn ausschließlich die individuellen Portionen auf dem Tisch stehen und sich nicht alles verfügbare Essen in Pfannen, Töpfen und Schüsseln in unmittelbarer Nähe befindet. Buffets können für einige Menschen ein Ausschlusskriterium sein. Wie immer ist es hilfreich einfach zu fragen, ob es für alle ok ist, wenn über den gesamten Zeitraum eines Treffens das Essen in greifbarer Nähe stehen soll.
Um Veranstaltungen so zu gestalten, dass genügend Essen eingeplant werden kann, ist es sinnvoll auf Anmeldungen zu bestehen, um eine Essensversorgung für alle Teilnehmer*innen gewährleisten zu können. Für Menschen, die Schwierigkeiten haben, in Gesellschaft zu essen oder zu anderen Zeiten essen wollen, können außerhalb gemeinsamer Mahlzeiten, einige Lebensmittel, zumindest aber Brot und Aufstriche, irgendwo zugänglich aufgestellt werden. So müssen sie nicht fragen, ob etwas übrig ist und damit auf sich und ihr Bedürfnis aufmerksam machen. Für längere Veranstaltungen, kann es hilfreich sein, einen Plan über die Zeiten und die Gerichte mit den einzelnen Komponenten aufzuhängen oder irgendwo einsehbar zu machen, entweder über den gesamten Zeitraum, oder am jeweiligen Tag zum Beginn des Tages. Es könnte auch in der Anmeldung gefragt werden, ob es Menschen gibt, die Schwierigkeiten mit Essen haben und so eine Möglichkeit geschaffen werden, schon im Vorfeld anonym konkrete Probleme mitzuteilen und Vorschläge aufzunehmen.
Direkte Unterstützung geben
Neben der Vermeidung von verletzendem und ausgrenzendem Verhalten ist auch die Förderung und Unterstützung von Menschen hilfreich und meiner Ansicht nach notwendig. Dazu gehören Anteilnahme, Interesse, Akzeptanz und Verständnis. Bei Veranstaltungen kann das Thema zwar auch auf Plena thematisiert werden. Wenn es aber keine konkreten Anlässe gibt, sollte es zumindest von Awareness-Gruppen mitgedacht werden. Außerhalb und unabhängig von Veranstaltungen können sich Bezugspersonen in Zweierkonstellationen oder Unterstützungsnetzwerke aus mehr Menschen finden, um ihre Wünsche und Erwartungen auszutauschen, bevor konkrete Vereinbarungen getroffen werden oder Konflikte und Krisen eintreten. Wichtig dabei ist, dass auch die Unterstützer*innen ihren Vorstellungen und Grenzen kommunizieren, damit klar wird wer welche Hilfe wann braucht, wie die Hilfsbedürftigkeit angekündigt wird und wer was leisten möchte und was nicht. Auch ohne vorbereitete Strukturen kann vor konkreten Situationen angeboten werden, grundsätzlich als Ansprechperson für schwierige Momente und (Lebens)Situationen zur Verfügung zu stehen.
Die Entscheidungen über den Umgang mit Essen und subjektiv empfundener Probleme damit, sollten den Betroffenen überlassen werden, weil sich die Probleme oft erst entwickelt haben, um aus bevormundenden und unterdrückenden Lebenssituationen herausbrechen zu können. Zu akzeptieren, dass Interventionen schaden (können) und die Nahrungskontrolle allein bei Betroffenen liegt, kann für Unterstützer*innen als sehr schwierig und belastend empfunden werden. Aber es gibt keine Alternative, um die Beziehung zwischen Betroffener und Unterstützer*in frei von Zwang und Manipulation zu machen und die Isolierung und Verzweiflung Betroffener nicht zu verstärken, sondern abzubauen. Erst wenn die Probleme und das Verhalten akzeptiert werden, kann man vereinbaren gemeinsam die Ursachen zu durchschauen und nach Alternativen und einer anderen Form zu leben suchen.
Auch wenn Beratungsstellen und Psychotherapien kritisch zu sehen sind, sollte der Wunsch danach, diese in Anspruch zu nehmen, akzeptiert werden. Bei einer Entscheidung für eine Therapie kann zum Beispiel bei der Überwindung behördlicher und bürokratischer Hindernisse geholfen werden. Im Zusammenhang mit professioneller/institutioneller Hilfe, ist auch eine Entscheidung zu einer Patientenverfügungxxxiv, einer Betreuungsverfügung und einer Vollmacht wichtig, da als essgestört geltende Menschen, die oft parallel noch andere psychiatrische Diagnosen erhalten haben, gefährdeter sind, Zwangsmaßnahmenxxxv ausgeliefert zu werden, als nicht zuvor psychiatrisierte Menschen.
Wenn sich Betroffene von ihren Bedürfnissen belastet fühlen und sie durch Unterstützung entlastet werden können, hilft es herauszufinden, welche Art der Unterstützung sie sich wünschen. Die kann durch Vermeidung einer fordernden Art durch einfache Fragen kommuniziert werden „Wie kann ich dir helfen? Wie kann ich dich unterstützen?“ zu fragen, kann sehr hilfreich und ermutigend dabei sein, die notwendigsten Dinge zu kommunizieren. Keine Bedingungen zu stellen bedeutet nicht, eigene Grenzen zu missachten, sondern die Hilfe an keine Forderungen zu knüpfen und sie nicht von der Erfüllung von Erwartungen abhängig zu machen. Wenn die Beziehung zueinander entsprechend vertraut ist, kann es helfen, bei Interesse an den Empfindungen von Betroffen zu fragen, ob und was für sie belastend ist, was ihnen hilft und ob sie über ihre Gefühle und Probleme reden wollen.
Unterstützung kann auch heißen, Personen mit „Fressdruck“ bei der Vermeidung oder der Umsetzung eines Essanfalls zu helfen (durch Besorgung und Zubereitung von Essen, Schaffen eines ungestörten Ortes) oder Personen, denen der Umgang mit Essen schwer fällt, bei Zubereitung, Einkauf oder beim Essen selbst zu begleiten. In jedem Fall bedeutet es, keine Vorwürfe zu machen und die Entscheidungen und den Umgang mit den Bedürfnissen zu akzeptieren und nicht zu kritisieren. Fragen hilft meistens. Manchmal hilft es auch sich von auslösenden Menschen zu entfernen oder den Ort, die Umgebung die Situation zu verlassen, die zum Fressdruck, Bewegungsdrang, Kopfkino, belastenden Gedanken/Erinnerungen oder Stress allgemein geführt haben oder zu deren Entstehung beitragen.
Die Achtung der Selbstbestimmung und individueller Grenzen ist grundsätzlich wichtig. Zur Vorbeugung von Grenzüberschreitungen, der Sensibilisierung für eigene und andere Grenzen helfen Übungen von Wahrnehmung und die verstärkte Thematisierung von Grenzen. Ein Instrument kann dabei die Zustimmung als durchgehendes Konzept in der Kommunikation seinxxxvi.
Weitere Notwendigkeiten
Die Bekämpfung von Lookismus, Bodyismus, anderer Diskriminerungsformen und Normen, die diese erzeugen, ist generell wichtig und kann dementsprechend vorbeugend gegen Probleme mit Essverhalten und Körperbeziehungen wirkenxxxvii.
Die Anwesenheit von Körpern bedeutet nicht, dass sie einer Diskussion, öffentlichen Debatte oder Beurteilung zur Verfügung stehen. Die Kommentierung von Körpern, deren Formen, Aussehen, Bekleidung oder sonstige Verhüllung, Gewandung und Verzierung (Frisuren, Bodymodifikation wie Tatoos, Piercings, Brandings, Narben) kann verletzend, herabsetzend, bevormundend sein und zur Normierung beitragen. Kleidung kann viele Funktionen erfüllen oder etwas über Personen aussagen. Muss sie aber nicht. Ob und welche das sind, entscheiden die sie tragenden Menschen. Das Reden über „dünne“, „dicke“, „fette“, „übergewichtige“, „adipöse“ Menschen, über Gewicht (einschließlich der Zu- und Abnahme) oder schöne und unschöne Körperformen kann verletzend, anmaßend, abwertend sein und bestimmte Ideale, Normen und Vorstellungen und damit auch deren Abweichungen (re)produzieren. Normativierungen diskriminieren Individualität. Auch Komplimente können ungewollt Aufmerksamkeit auf Körper lenken und anmaßend sein, weil sie Menschen bewerten und Informationen beinhalten, die betreffende Menschen vielleicht gar nicht hören wollen. Damit sind keine Komplimente und andere Kommentare gemeint, die auf eine Art und Weise und in einer Beziehung stattfinden, in der abgesprochen und klar ist, was passend und erwünscht ist und was nicht.
Der Artikel sollte zeigen, dass Vorurteile und Stigmatisierungen zwar anzutreffen sind, aber abgebaut werden können, dass Abwertung und Ausgrenzung gefährlich sind und dass radikale Unterstützung wichtig für ein emanzipatorisches Selbstverständnis und einen solidarischen Umgang miteinander ist. Sie ist wichtig, damit die Betroffenen nicht zu Grunde zu gehen, an all den persönlichen und gesellschaftlichen Zwängen um uns herum, wie Leistungsdruck und Lohnarbeit, (Körper)normen, Bevormundung, Diskriminierung, psychischer und sexueller/sexualisierter Gewalt und anderen belastenden Erfahrungen, alltäglichem Stress, sozialen Konflikten, aber auch an den emotionalen Folgen von politischem Aktivismus, durch Repression oder der Beschäftigung mit Ausbeutung, Ungerechtigkeit und permanentem Leid.
Aufruf zum Mitgestalten, Mitschreiben und Erfahrungen teilen
Die hiesige, vor allem wissenschaftliche Literatur lässt bisher die Sichtweise der Betroffenen weitgehend außen vor. Zumindest bei der Interpretation, Einordnung und Bewertung von Gefühlen, Gedanken und Handlungen. Über ihre Erfahrungen dürfen sie berichten, aber die Bewertung dieser gehört bisher den selbsternannten Expert*innen, die aber meist nicht betroffen sind und mit ihren Modellen und Interpretationen die Betroffenen oft fremd bestimmen. Daher ist geplant, unter Einbeziehung feministischer, emanzipatorischer, psychiatriekritischer Perspektiven, die Untersuchung, Darstellung und Beschreibung des Themas „Essstörungen“ aus Betroffenenperspektive verstärkt zu thematisieren. Es gibt mehrere Ideen für Projekte, unter anderem Broschüren/Zines zu den Erfahrungen und Problemen Betroffener, potentiell hilfreichen Methoden in Belastungssituationen, zu gesellschaftlichen Ursachen und Bedingungen, zu Tipps für Unterstützer*innen, sowie eine Untersuchung durch leitfadengestützte Interviews und Erfahrungsberichte, die Ursachen und Zusammenhänge auch mit veganer und anderen Ernährungsformen thematisieren. Da ich dafür mehr betroffene Menschen persönlich kennenlernen möchte, freue ich mich sehr über Anfragen, Kritiken, Kommentare, weiteren Ideen zum Thema oder sonstiger Kontaktaufnahme.
* Das Sternchen dient als Hinweis auf die oft unzutreffende fremdbestimmte Zuordnung von Menschen und ihren Körpern zu bestimmten Geschlechtern. Geschlechter können so unendlich vielfältig wie die Menschen selbst oder als Konzept komplett abgelehnt werden. Frauen und Mädchen meint hier weiblich sozialisierte oder/und wahrnehmbare Personen. Diese Bezeichnung soll männliche und anders geschlechtliche betroffene Personen, nicht ausblenden, sondern nur die Verhältnismäßigkeit sprachlich wiedergeben.
Literatur für Betroffene, die nicht uneingeschränkt empfohlen werden kann, aber teilweise theoretische oder auch literarische Ansätze sowie praktische Übungen und Programme für den Alltag enthält, die bei Essproblemen hilfreich sein können:
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Susan Albers: Essen, trinken, achtsam genießen. Praxisübungen für ein Leben im Gleichgewicht, Zwickau 2010 [Eat, drink and be mindful – how to end your struggle with mindless eating and start savoring food with intention and joy, Oakland 2003]
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Jan Chozen Bays: Achtsam essen, Kösel 2009 [Mindful Eating, Boston 2009]
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Susie Orbach: Anti-Diät-Buch II. Eine praktische Anleitung zur Überwindung von Eßsucht, München 1983 [Fat Is A Feminist Issue II, New York 1982]
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Anita Johnston: Die Frau, die im Mondlicht aß. Die uralte Weisheit von Märchen und Mythen hilft Frauen, Ess-Störungen zu überwinden, München 2003 [Eating in the Light of the Moon, New Jersy 1996]
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G.F. Huon/, L. B. Brown: Bulimie. Neue Wege zur Heilung. Ein Selbsthilfe-Programm, München 1999 [Fighting with food, Kensington NSW Australia 1988]
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Ulrike Schmidt, Janet Treasure: Die Bulimie besiegen. Ein Selbsthilfe-Programm, Weinheim und Basel 2002 [Getting Better Bit(e) by (Bit(e). A Survival Kit for Sufferers of Bulimia Nervosa and Binge Eating Disorders, Hove England 1993]
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Barbara G. Bauer, Wayne P. Anderson, Robert W. Hyatt: Bulimie. Behandlungsanleitung für Therapeuten und Betroffene, Weinheim und Basel 2002 [Bulimie. Book für Therapist and Client, Indiana 1986]
Zynisch und menschenverachtend – Wie im Namen der Neurobiologie mithilfe absurder Theorien Betroffene psychiatrisiert und für sexistische, patriarchale und täterschützende “Erklärungsmodelle” instrumentalisiert werden
Ein Beispiel für einen absolut unsinnigen, gesellschaftliche Faktoren ignorierenden, Betroffene pathologisierenden und menschenverachtenden als Wissenschaft verkauften Ansatz, lässt sich mit dem Buch „Essstörungen und Persönlichkeit“ von Helga Simchen verdeutlichen. Das Störungsbild essgestörter Persönlichkeiten habe demnach eine „gemeinsame neurobiologische Ursache“, zu der eine „zu große Empfindlichkeit als Folge einer angeborenen besonderen Art der Informations- und Stressverarbeitung“ oder wahlweise auch „Reizverarbeitung“/„veränderten Art der Wahrnehmungsverarbeitung innerer und äußerer Reize durch das zentrale Nervensystem“ gehöre.
Die Betroffenen hätten eine „angeborene, genetisch und neurobiologisch bedingte Verletzlichkeit, die zu einer Schwellensenkung gegenüber sozialen Faktoren“ führe. Magersucht diene der psychischen Stabilisierung selbstunsicherer Persönlichkeiten, die infolge genetisch bedingter veränderter Wahrnehmungsverarbeitung unter Dauerstress litten.
Gefährlich wird dieser groteske Ansatz, wenn eben nachgewiesenermaßen abhängigmachende sowie psychische und physische Folgeerscheinungen erzeugende Medikamente dringend empfohlen werden. Da die bisherigen Erklärungsmodelle wie familiäre Dynamiken, Missbrauchserfahrungen, Gewalt, Vernachlässigung, gesellschaftliche Zwänge, Schönheitsterror, Schlankheitswahn, Mobbing, permanentem Ausgesetztsein von Normen und der Beurteilung und Kommentierung von Aussehen und Körpern ja auf keinen Fall ausreichen würden, müsse natürlich ein genetischer Defekt dazukommen, der Tadaaa: medikamentierbar ist. Weder könne Magersucht als die alleinige Folge oder Summe von gestörten Familienbeziehungen, sexuellem „Missbrauch“, gesellschaftlichem Modetrend, Ablehnung der Frauenrolle u.a. Faktoren existieren. Essstörungen ließen sich stattdessen besser als Folge eines zuvor nicht erkannten oder bisher unzureichend behandelten Aufmerksamkeitsdefizitsyndroms ansehen. Eine Verbindung zwischen „Essstörungen“ und sogenanntem ADHS wird konstruiert, um eine angebliche Persönlichkeitsstruktur den „magersüchtigen“, bulimischen“, „esssüchtigen“ oder „adipösen“ Menschen nachzuweisen. Dabei werden menschliche Probleme, Neigungen, Alltagserfahrungen und Fremdeinschätzungen, selbst wenn diese bei fast jedem Menschen vorkommen, als gemeinsame Persönlichkeitsmerkmale von essgestörten und an ADHS erkrankten Menschen behauptet, um die essgestörte Persönlichkeit „wissenschaftlich“ zu beschreiben.
Und gegen diese genetisch bedingte Veranlagung, die der ADHS-Persönlichkeit gemeinsam ist, gibt’s – wie für diesen „wissenschaftlichen“ Nonsens zu erwarten war – wirksame Medikamente. Menthylphenidat wäre eines der am besten erforschten Medikamente, dessen Anwendung noch immer von vielen Menschen als völlig zu Unrecht abgelehnt würde. Es verändere in keinster Weise das Denken und Handeln und noch ganz viel weitere Propaganda, wie die Behauptung es würde nicht abhängig machen usw., was längst widerlegt ist. ADHS als Erfindung des amerikanischen Psychiaters Leon Eisenberg, der einst darum kämpfte, es als angebliche Hirnstörung in das DSM aufzunehmen, gab letztlich zu, dass er es selbst nicht als Krankheit, sondern als Paradebeispiel für eine fabrizierte Erkrankung ansiehtxxxviii. Laut Bundesinstitut für Arzneimittel sind die Verschreibungen von Ritalin (Methylphenidat) von 34 Kilogramm im Jahre 1993, auf 1791 Kilogramm im Jahr 2011 angestiegen. Das entspricht einem Anstieg von 5.267 Prozent in einem Zeitraum von 18 Jahren. Mit der Beachtung der Empfehlung von Kinderpsychiaterin Simchen, als Ursache für Essprobleme eine bisher unerkannte ADHS-Erkrankung zu suchen, könnte sich ein neuer Milliardenmarkt für ADHS-Medikamtente öffnen und weltweit weitere Millionen Menschen, die bisher nicht oder anders medikamentiert wurden, zusätzliche und ernsthaftere psychische und physische Leiden durch Pharmadrogen erfahren.
Obwohl Fachliteratur, wie erwähnt, generell sehr kritisch zu betrachten ist, hat sich auf dem Gebiet der Essstörungen die Ansicht weitgehend durchgesetzt, dass Medikamente im Vergleich mit anderen „psychosomatischen Erkrankungen“ vergleichsweise am schlechtesten wirken. Aber Psychiaterin Simchen ist so abgebrüht, nachgewiesenermaßen wirkungslose bis gefährliche Medikamente als wirksam bei „Essstörungen“ anzupreisen, die Betroffenen schon vor einem bedrohlichen Zustand nicht vorenthalten werden dürften.
Im Widerspruch der allermeisten Einschätzungen zur Verbreitung von sexuellem/sexualisiertem „Missbrauch“ und entgegen bekannter Erfahrungsberichte von Betroffenen, Aussagen von Angehörigen und Therapeut*innen und vielen Studien, steht zudem die Aussage (es ist schwer zu glauben, dass das ernst gemeint ist), dass Betroffene in den seltensten Fällen sexuell missbraucht worden seien, sondern „dass sexueller Missbrauch und Essstörungen eine Folge der gleichen bio-psycho-sozial geprägten Grundstörung sind, die mit einer inneren Verunsicherung der Betroffenen und ihrer Unfähigkeit verbunden ist, sich anderen gegenüber energisch und erfolgreich wehren zu können. Beides geht häufig mit einer schwachen Persönlichkeit einher.“ Demnach läge die Ursache von Essproblemen und sexuellem Missbrauch (!) vor allem bei den Betroffenen selbst. Eine „schwache“ Persönlichkeit und die Unfähigkeit von Kindern sich energisch genug zu wehren und nicht das Verhalten der Täter, sei demnach eine zutreffendere Ursache von sexuellem Missbrauch als das verantwortungslose, übergriffige und die überlegene Position ausnutzende Verhalten seitens der Täter. Das ist Täterschutz, Victim-Blaming, Rape-Culture in Reinform und das im Namen der Wissenschaft. Da gehen selbst bekannte sexistische täterschützende und opferbeschuldigende Stammtischparolen, die figurbetonte und feminine Kleidung bzw. das Schmücken und Betonen von Körpern als ursächlich für Übergriffe ansehen und die Schuld für Übergriffe meist Betroffenen geben, nicht so weit. Die unterstellen Betroffenen lediglich ein falsches Verhalten. Missbrauchsbetroffenen aber noch ein genetisches Defizit zu unterstellen, ist die Errungenschaft pathologisierender und mit Medikamenten um sich werfender Ärtz*innen im Namen der Neurobiologie. Wahrscheinlich liegt es auch an einer Sprachentwicklungs- und Selbstwahrnehmungsstörung, wenn Kleinkinder gegenüber Erwachsenen nicht eindeutig klar machen können, dass die Täter deren Grenzen zu respektieren haben.
Die bisherigen Erkenntnisse zwischen dem Zusammenhang von sexuellem/sexualisiertem Missbrauch und „Essstörungen“ werden hier relativiert als fälschliche Annahmen abgetan und betreffende Studienergebnisse ignoriert, da bei betroffenen Kindern oft Erinnerungen suggeriert worden wären, sexueller Missbrauch nicht so oft vorkäme, wie von Betroffenen berichtet und es wird auch noch (allen ernstes?) behauptet, dass sexueller Missbrauch als alleinige Ursache für Magersucht widerlegt werden konnte. Wie auch immer so ein komplexes Ursachen-Wirkungs-Gefüge je belegt oder widerlegt werden könnte, bleibt das Geheimnis der „Wissenschaftlerin“. Viele Betroffene haben keine oder unvollständige Erinnerungen an Erlebnisse sexueller Gewalt oder können oder wollen ihre kompletten Erlebnisse ihren Therapeut_innen nicht in allen Details berichten. Und wenn es denn viele tun, ist das nach Simchen nicht ein Beleg für eine der Hauptursachen von Essproblemen, sondern nur ein Beleg ihrer absurden Theorie, nach der Berichte über sexuellen Missbrauch kein Beweis für den Missbrauch, sondern wahrscheinlich eines unbehandelten Aufmerksamkeits-defizitsyndroms sind. Obwohl auch ohne Studien und andere wissenschaftliche Argumente auch so für jede*n nachvollziebar sein dürfte, dass Übergriffe, sexuelle Misshandlungen, Gewalterfahrungen oder andere Grenzüberschreitungen, die Beziehung zu sich und dem Körper langfristig (zer)stören können und es keine wissenschaftlich haltbare (also weder verifizierbare noch falsifizierbare) Definition von Normalität oder Pathologie gibt, existieren tatsächlich derart gruselige Behauptungen und Theorien in der Wissenschaft, die in Methodik und Zeitgeist an das finsterste Mittelalter erinnern.
Insgesamt lässt sich also weitgehend unkommentiert darlegen, dass diese Art von Fachliteratur wenig bis nichts mit den vorgeblichen wissenschaftlichen Ansprüchen zu tun hat. Ursächliche und auslösende Umstände für Probleme, die Betroffene für sich selbst am besten erkennen können sowie gesellschaftliche, familiäre, soziale Faktoren oder biografische Ereignisse werden relativiert, verharmlost und negiert, um mithilfe des eigenen Erklärungsmodells, ohne nachvollziehbare Belege für die meisten Behauptungen, eine „Störung“ zu erfinden, die auch mit Medikamenten behandelt werden könne. Wenn diese Meinung Eingang in die Praxis findet, lassen sich zusätzlich Milliarden mit herkömmlichen ADHS-Medikamenten verdienen, die „essgestörten“ Menschen verschrieben werden und deren Wirkung nicht nur gefährlich ist, sondern auch absolut nichts an den Ursachen, auslösenden Umständen und gesellschaftlichen Bedingungen ändern, die Essprobleme erst erzeugen. Betroffenen wird nicht geholfen, sondern sie werden nicht ernst genommen, sie werden pathologisiert, wahrscheinlich retraumatisiert und damit ihre Probleme wesentlich verschlimmert. Geholfen wird allein denen, die vom Umsatz der ADHA-Medikamente profitieren oder derartigen Wissenschaftler_innen wie Helga Simchen, die in ihre Liste eine weitere Veröffentlichung in Buchform gepresst präsentieren kann. Es bleibt zu hoffen, dass alle Leser_innen diesen menschenverachtenden Spuk als totalen Nonsens und betroffenenschädigendes Selbstbereicherungsexperiment zu erkennen vermögen.